Meine Schäferhündin Jenny ist (leider!) hochsensibel, ein Umstand, der recht früh auffällig wurde. Schon als Welpe war eines der ersten Dinge, die ich beobachtete, dass Jenny nicht wie andere Hunde rechts und links und geradeaus schnupperte, sondern oft vermeintliche „Geister“ in der Luft anstarrte. Manchmal konnte ich eruieren, was sie da sah, manchmal auch nicht. Bei simpelsten, ruhigen Spaziergängen war sie gestresst. Als Jennys Mensch, auch als Hundetrainerin, suchte ich die Gründe für diesen Stress, für all ihre Verhaltensweisen, bei mir. Bin ich zu hart? Bin ich zu weich? Was mach ich falsch? Hab ich gar versagt? … seufz … Es waren schwierige Zeiten und manche Phase überlegte ich auch, Jenny ein neues Zuhause zu suchen. Vielleicht kommt sie mit mir als Person nicht klar, dachte ich. Und es wäre ein Akt der Liebe, sie von mir zu erlösen und Leute zu finden, bei denen sie entspannter sein kann. Ich glaube, wir sollten gütiger mit uns selbst sein. Dinge sind wie sie sind. Und erst wenn wir Dinge als gegeben, auch als unabhängig von uns annehmen, hören wir auf, dagegen anzukämpfen.
All ihre Verhaltensweisen waren immer extrem. Extrem in der Zuwendung, extrem in der Angst, z. B. nach einer Ermahnung, extrem bei Aufgaben, z. B. beim Verjagen und Bewachen der Hühner durch den Fuchs, beim Spielen usw. Ein „normal“ gab es bisher selten. Nur ein „extrem“ und ein „überfordert“. Ausgenommen ist jedoch ihre Arbeit im Krankenhaus oder Hospiz. Dort ist es, als wäre Jenny ein anderer Hund. Ruhig, entspannt, aufmerksam … genau so wie es sein soll. Die Gründe dafür erschliessen sich mir noch nicht voll, insofern möchte ich das erstmal außen vor lassen.
Wenn ich einmal mit Jenny irgendwo Ball oder Frisbee spielte, konnte ich davon ausgehen, dass Jenny beim nächsten Spaziergang schon Meter vorher angespannt und aufgeregt wurde. Sie merkt sich solche Dinge blitzschnell und übertreibt in ihren Erwartungsreaktionen. Mich trieb es oft zum Wahnsinn. Auch wenn ich als Trainerin immer wieder gut gegensteuern konnte, war die Tatsache an sich, nichts Normales mal einfach so tun zu können, schwierig zu akzeptieren.
Manchmal fragte ich mich auch, ob ich diesen Hund so liebte, wie er es verdiente. Und bis heute weiß ich keine wirkliche Antwort darauf. Das was ich weiß, ist, dass sie mich unendlich liebt. In allem, was sie tut, tut sie es, weil sie mir gefallen möchte. Weil sie es mir recht machen möchte. Auf ihre Art und Weise. So wie sie es eben kann. Doch weil sie immer ins Extreme rutscht, trifft sie häufig nicht den richtigen Nerv. Ich kann immer nur staunen, dass diese Liebe und Treue, die sie mir entgegenbringt, ein Faden zu sein scheint, der nie reißt.
Als ich sie einmal zu meiner Tochter brachte, die auf sie aufpassen sollte, während ich in einer Fortbildung saß, riss sie viermal aus, übersprang Zäune, rannte durch Wohnsiedlungen, über Straßen, auf der Suche nach ihrem Frauchen, nach mir. Julanta nahm diese Situation völlig gelassen an. Als junge Hündin gab ich – völlig erschöpft – einem Freund mit einer Tierpension Jenny. Sie sollte ein paar Tage bei ihm bleiben, bis ich wieder Kräfte gesammelt hatte. Auszeit für uns beide. Die Tierpension war von dicken Mauern eingeschlossen, das Areal der Pension und des Tierheims war doppelt und dreifach gesichert. Es war bekannt, dass um dieses Gebiet in dem Waldstück Wölfe lebten. Jenny erklomm alle Hürde, alle Sicherheiten, auch wenn sie noch so hoch waren. Beim ersten Ausreißen konnte mein Freund die Hündin noch rechtzeitig sichern. Beim zweiten Mal jedoch war sie schon 30 km gelaufen – in die richtige Richtung. Das ist Jenny.
Neue Dinge wirken auf hochsensible Hunde sehr bedrohlich oder verunsichernd. Wir haben Rituale gefunden, die es mir ermöglichen, auch meinen Freiraum zu haben. Alleinebleiben der Hunde ist für mich existentiell, weil sie mir ermöglichen, arbeiten zu gehen. Erst Sonntag spürte ich wieder, wie schwierig Jenny mit „Ausnahmen“ von der Regel umgehen kann. Als ich im Hospiz zum Osterbasteln war und es einfach ausnahmsweise länger dauerte (und ich für die Hunde zu einer ungewöhnlichen Uhrzeit abwesend war), lag Jenny zitternd in der offenen Box (Rückzugs- und Sicherheitsort) und überall im Wohnzimmer erblickte ich Erbrochenes. Wie schlecht muss ein Hund sich fühlen, um so zu reagieren? – Sie tat mir einfach unendlich leid.
All die Zeit mit Jenny konnte ich nicht wirklich realisieren, was Hochsensibilität beim Hund bedeutet. Ich musste immer nur reagieren, gegensteuern, trainieren. Ich empfand all das als persönliche Intrige des Universums. Als einen Kampf, den ich gewinnen musste oder verlor. Auch als Hundetrainerin. Wie kann ich Menschen gut beraten, wenn mich Jenny forderte, anstrengte und wir keine guten Lösungen miteinander fänden?
Doch mit meiner Rückkehr am Sonntag, der zitternden Jenny, den Pfützen voller Erbrochenen … fiel all das von mir ab. Plötzlich hatte ich Mitgefühl. Nur Mitgefühl. Und ich konnte meine Liebe zu diesem Hund erkennen. Plötzlich war die Aufgabe klar, die ich hatte: Immer und zu jeder Zeit Stütze zu sein, Sicherheit zu vermitteln, vor allem Verständnis zu haben, dass dieser Hund eben nicht „normal“ ist. Jedes Kind mit einer Behinderung wird speziell behandelt und genauso musste ich auch Jenny künftig behandeln. Speziell. Auch wenn Hochsensibilität keine Krankheit ist, so erfordert sie andere Wege. Wege, die eben noch nicht so gut erforscht sind. Es bedeutet zum Beispiel den Hund anzuleinen, auch wenn der Gehorsam exzellent ist und die Gegend prädestiniert für Freilauf ist. Reizminimierung. Das war in der Vergangenheit oft ein innerer Konflikt. Ich wollte einfach nicht einsehen, warum ich einen Hund, der so gut hört, im Wald an die Leine nehmen musste. Ich beobachtete nur, dass Jenny nach einem Waldspaziergang hechelte wie nach einem Jogginglauf. Es sind einfach die Reize. Die Stimmungen der mitlaufenden Hunde, auf die sie einfach auch reagiert. Wenn Julanta ein bisschen vorläuft, macht Jenny sofort ein „Wir“ daraus. „Wir“ müssen uns kümmern! Sie interpretiert Signale, Stimmungen auf ihre Art und Weise und setzt es dann in Verhalten um.
Ich betrachte Hochsensibilität beim Hund als eine Art Entgleisung, die es dem Hund schwer macht, zu leben. Die normale Sensibilität des Hundes ist manchmal schon ein Problem, die Hochsensibilität braucht niemand. Jenny hat insoweit Glück, dass sie in einer ruhigen Natur-Idylle lebt. In einem Haushalt mit Kindern oder viel Action oder Lautstärke wäre es die Katastrophe.
Dass mein Hund mit Hochsensibilität geschlagen ist, empfinde ich nicht mehr als persönliche Intrige oder als Kampf, den es auszufechten gilt. Ich muss nicht gewinnen oder verlieren. Es ist egal. Es ist einfach so wie eine Krankheit. Und wie auch Jenny nicht sagen kann: Ich möchte das einfach nicht haben, so kenne ich es auch von mir … Auch ich möchte manchmal nicht sehen/verstehen wollen, was sich mir im Äußeren zeigt. Ich habe meinen Weg gefunden, der es mir ermöglicht, glücklich und zufrieden zu sein. Ich bin optimistisch und voller Zuversicht, dass ich diesen Weg mit Jenny auch finde. Im Grunde hat er schon längst begonnen. :-D
Das, was noch fehlt, in dem ganzen Prozess, ist das Positive, was in jedem Umstand, in jeder Sache schlummert. Was sind die positiven Aspekte einer Hochsensibilität? Beim Hund? Beim Mensch? Inwieweit kann Gutes daraus geschöpft werden? – Wenn ich es herausgefunden habe, lasse ich es euch wissen!
Eure Claudia