Im Frühjahr bekam ich von einer lieben Freundin unzählige kleine Tomaten-Pflänzchen geschenkt. Ich freute mich riesig darüber und pflanzte die Winzlinge alsbald in kleine Töpfchen, auf das sie wachsen und gedeihen und mir eine riesige Ernte und viel, viel winterliches Tomaten-Pesto bescheren mögen. Als die Pflänzchen ein bisschen gewachsen waren, verschenkte ich ein kräftiges Pflänzchen an eine weitere Freundin. Reichtum muss geteilt werden.

Einige Monate sind inzwischen ins Land gezogen. Voller Stolz vermeldete Freundin II den ersten Tomatenbesatz. Ich fragte Freundin I, ob sie schon Tomaten an ihren Pflanzen hätte, doch sie verneinte. Vom Ehrgeiz getrieben untersuchte ich von nun an täglich meine Pflanzen und siehe da, drei Tage später als Freundin II hatte auch ich Tomaten am Start, während Freundin I noch immer wartet. Ein direkter Vergleich aller Pflanzen verriet mir dann das Geheimnis der unterschiedlichen Reifung der Tomaten:

Jeder von uns behandelte seine Tomaten-Pflanzen mit viel Liebe und Fürsorge. Wir gossen regelmäßig, räumten ihnen einen Platz in der Sonne ein, düngten und geizten wilde Triebe aus.

Freundin I hatte ihre Tomaten hinter dem Haus gepflanzt. Der Boden war sandig und das Wasser sickerte die kleine Anhöhe herunter. Der Wind zottelte ungehindert an der Pflanze und trocknete den Boden zusätzlich aus. So hatten ihre Tomaten in der ersten Zeit wenig Nährstoffe und mickerten vor sich hin. Erst als Maßnahmen zur Stärkung ergriffen wurden, erholten sich die Pflanzen und werden sicher bald die ersten Früchte tragen.

Stellen wir uns nun vor, die Pflanzen wären Menschen. An Liebe mangelte es in Kindheit und Jugend nicht. Doch Wasser und Nährstoffe flossen einfach an der Pflanze vorbei, weil die Ausgangslage etwas schwierig war durch die schräge Anhöhe. Stellen wir uns ein Kind, einen Jugendlichen in einem wenig optimalen Lebensumfeld vor. Alle Kinder bekommen den gleichen Lehrstoff in der Schule vermittelt, aber wenn die Förderung und elementare Dinge im Elternhaus fehlen, kann das Kind sich dennoch nicht entfalten oder voll entwickeln. Die Nährstoffe, die die Pflanzen von Freundin I erreichten, versickerten schlicht in dem sandigen Boden, ohne dass sie in ihrer Fülle von der Pflanze genutzt werden konnten wie bei dem Kind aus miesem Elternhaus.

Mit Management und geeigneter Hilfe konnte das Problem gelöst, die Schräge wieder gerade gebogen werden. Es bleibt jedoch fraglich, ob es am Ende reichen wird, um das beste Potential jeder Pflanze zu entfalten. Doch Tomaten wird es bestimmt geben.

Freundin II hatte ihre Pflanze ebenso fürsorglich und liebevoll behandelt wie Freundin I. Doch als ich die Pflanze sah, war ich erstaunt über ihren kleinen Wuchs. Meine Pflanzen hatten schon unzählige Tomaten dran, waren riesengroß und mussten schon zweimal gestützt werden. Bei Freundin I blieb es jedoch bei den zwei kleinen Tomaten.

Das Problem liegt hier in der „Enge“ und der räumlichen Begrenzung. Ein winziger Topf reicht nicht aus, um Nährstoffe und Wasser zu speichern, die die Pflanze benötigt, um sich zu entfalten. Am Anfang reicht es, doch irgendwann wird es zu eng. Ein Kind aus gutem Elternhaus, kann trotzdem an der Entwicklung behindert werden, wenn es zum Beispiel sehr streng und mit vielen Regeln erzogen wird. Es sind dann die Ketten, mit dem sich der entwickelnde Mensch selbst am Weiterlaufen hindert. Wenn ein Mensch in einen sehr engen Rahmen gepresst, begrenzt, reguliert, eingeengt wird, so kann er nicht sein Potential erweitern und über sich hinauswachsen. Nur zu oft sind die Fesseln hausgemacht: Vergangenheit, Traumata mit allen Folgeerscheinungen, Ängste, Erwartungen, Schubladen-Denken, mangelnde Selbstliebe, …. Dabei müsste der Mensch nur einfach seine Fesseln sprengen, um zu wachsen und zu wachsen und um irgendwann von den Früchten naschen zu können, Reserven anzulegen und wann immer er will davon zu zehren, anderen von seinem Reichtum und seiner Fülle abzugeben.

Wie sieht es nun mit meinen Tomaten aus? – Sie sind riesig. Die Grössten von allen. Überall wachsen schon kleine Tomaten. Ich gab den Pflanzen Nahrung, Sonne und vor allem Raum zum Entfalten und Ausbreiten. Und eben dies braucht auch jeder Mensch. Wenn wir Potentialentfaltung anschauen, so wäre Nahrung nicht nur gutes Essen, also gute Lebensenergie, sondern auch Befriedigung elementarer Bedürfnisse, die individuell verschieden sein können. Mit Sonne assoziiere ich Freude und jene schönen Momente, die das Herz zum Lachen bringen und es ganz weit machen. Freiheit ist für mich ein sehr bedeutendes „Lebens-Elixier“.  Sich aus Enge, gesellschaftlichen Vorgaben etc. zu befreien, ist es nötig, viele Dinge kennenzulernen, zu erfahren und dazu gehört Mut. Mein „Tomaten-Mensch“ hätte sein Potential voll entfaltet

Und welcher „Tomaten-Mensch“ bist du?

Eure Claudia